Im Haus der Jesuiten über die #Selbstbestimmungsinitiative @svpch nachdenken.

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[Textsorte: Blitz, Memo] Der Abend kam wie gerufen. Notfallmässig ereilte mich ein Lehrauftrag an der FH St. Gallen: “Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession?” — Vier zusammenhängende Tage. Eher eine Performance, also. Bachelor-Lehrgang Soziale Arbeit. Sofort eröffnete ich den Hashtag #SozialarbeitMR in meinem Zettelkasten auf Twitter und begann zu sammeln.

Von Stephan Porombka lernte ich, warum das Making Of wichtiger geworden ist, als das Werk selbst: Zum #MakingOf.

Hedwig Richter bestärkte mich in ihrer Vorbereitung auf eine Vorlesungsreihe zu “Geschichte der Demokratie” in ihrer Frage: “Brauchen wir nicht eine Körpergeschichte der Demokratie?

Und Dirk Baecker notiert nach der Lektüre von Bruno Latour: “Die Frage ist nicht, wie wir den Boden unter den Füßen wieder gewinnen, den wir durch die Prozesse der Industrialisierung, Urbanisierung und Globalisierung verloren haben. Sondern die Frage ist, wo wir den Boden finden, auf dem wir künftig stehen können. (… Es ist die) Frage nach einer Erde, die wir immer wieder neu zu denken haben.” Und immer so weiter.

Gleichursprünglichkeit & Damakrata

Irgendwann kam ich auf ein mir gänzlich unbekanntes “Forum für Demokratie und Menschenrechte”. Diese Habermasche “Gleichursprünglichkeit” von “Volkssouveränität und Menschenrechte”. Dieser stechende Verdacht, dass jene bittere Bemühung — allen Menschen klar zu machen, dass gelten solle: “Die Würde des Menschen ist unantasbar.” — könnte auf ein plumper Kampfbegriff der PR-Agenten von #DearDemocracy gefallen sein.

Dass es sich 75 Jahre nach grässlichen Ansprachen bei diesen Menschenrechten doch bloss noch um zwei Seiten von ein- und derselben Münze handeln könnte... Das liess mich auf der Seite verweilen...

Peter Sloterdijk notierte sich einmal, dass es in fernen Gegenden den Begriff “Damakrata” geben soll. Er bedeute: “Westlicher Überfall auf ein Land zu dem Zweck, eine Marktwirtschaft aus ihm zu machen.” Das liess mich an diesen “Event” im Haus der Jesuiten, direkt am Bellevue, am Fuss des Berges zu Universität und ETH Zürich, gehen…

Von 1874–1973 waren die Jesuiten in der Schweiz verboten. Zu gebildet. Zu gewandt. Zu konterrevoluzzerisch. Aber jetzt sind sie wieder da:

Gott sei Dank.

Auf die Sekunde genau eröffnet der Veranstalter — ein Doktorand am Thema “Demokratie und Menschenrechte” — den Abend. Er zieht sich bald in den hinteren Raum zurück.

Pater Franz-Xaver Hiestand SJ begrüsst die Gästeschar in seinem Haus. Er würde sich freuen, wenn es zu weiteren Veranstaltungen käme. Er zieht sich nach wenigen Sätzen in eine Gebetsrunde zurück.

So übernimmt ein Journalist von Tamedia moderierend den Abend. Das Setting ist klassisch: 2 Frauen. 2 Männer. — Eine Nationalrätin. Ein Nationalrat. Eine Journalistin. Ein Publizist und Mediensprecher. — Die Liberalen. Die Volkspartei. Die Weltwoche, früher bei NZZ. Das Bistum Chur (zu welchem bis heute auch Zürich gehört), er aber sei Privat hier: Der Bischof würde schweigen zu dieser Frage.

Das Publikum ist in schwach geschwungener Formation in einer Zweierreihe den Exponierten exponiert. Auf gleicher Höhe. Nur ohne Schutz durch Tischchen. Bloss ohne Wasser. Es — das Publikum — wird später auch etwas sagen dürfen. Nicht zu wenig. Sie nennen es #opendebate. LIVE.

Der Moderator lädt die vier geladenen zum Eingangsvotum. Er fordert sie gegenseitig auf — und das Publikum möge es ihnen gleich tun — hinter allen Sätzen, Phrasen und Rhetoriken nach “Dem guten Argument” zu suchen. Selbst — und gerade bei jenen — welche nicht die gleiche Meinung vertreten würden. Das erinnert an die Tradition von #agree2disagree. An die Suche nach einem Musterhaften Umgang mit dem Fakt, dass dissens herrscht, wo zwei eigenständige Persönlichkeiten etwas miteinander verbindlich tun wollen. (Von wem haben wohl diese Kuh- und Geissenhirten aus dem Urkanton der Schweiz, solch Mustér/Dissentis-haftes gelernt? ;-)

#reform500 #reform200 #reform100

Es wurde ein guter Abend. Es wurde das, was mich in meinen Suchbewegungen unterstützt hat. Nein, nicht nur #SozialarbeitMR, auch: “Woran erkennst du den Inhalt einer Volksinitiative?” — Immerhin: Wenn die Schweiz vor 500, vor 200, vor 100 Jahren je sonderbarer “Sonderfall” war, warum nicht auch dieses Mal wieder?

#Grundeinkommen #NoBillag #Vollgeld

Eben haben “im Labor Schweiz” tausende von Menschen darüber nachgedacht, ob Erwerbsarbeit eigentlich noch immer der Königsweg zur Sozialen Sicherheit sein kann. Ob der Staat über die Steuern hinaus Geld eintreiben soll, um “gesellschaftliche Synchronisierung” via Massenmedien zu ermöglichen. Ob Geld, eigentlich noch ist, was es einmal vorgegeben hat zu sein und warum die Nationalbank von der “Direkten Demokratie” gänzlich aussen vor gehalten wird. Und jetzt also die Frage: Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass nicht mehr der Kanton das oberste Organ ist? Dass das, was bloss Bund sein soll, plötzlich das oberste Gericht stellt und die Machenschaften in den Hauptstädten kontrolliert?

Die Schweiz kennt die Bezeichnung “Hauptstadt” nur auf kantonaler Ebene. Bern nennen wir “Bundesbern”. Und wenn “fremde Journalisten” von “der Hauptstadt der Schweiz” reden, kichern wir. Und wenn es “bekannte Journalisten” tun, spucken wir. Und wenn sich Bundesräte als “Président de la Confédération suisse” inszenieren, wird es peinlich. (“Von der Kunst nicht dermassen presendiert zu werden.”)

Und noch viel mehr: Wie konnte es — um alles in der föderalistischen Welt — bloss dazu kommen, dass jenes oberste Gericht sich selbst, ausserhalb des eigenen Landes von Richtern aus weiten Teilen der Welt berufen, die Vereinbarungen und Beschlüsse auf dem Gebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft zwingend überwachen lässt? Fragen über Fragen.

Es sind grandiose Fragen.

Es sind Fragen, welche die — nach Häfelin/Haller — vier tragenden Grundwerte des Bundesstaatsrechtes radikal befragen:

  • Rechtsstaatlichkeit
    Steht das starke Recht noch vor den Rechten der Stärkeren?
  • Demokratie
    Können Herrschende noch ohne Blutvergiessen von der gewaltigen Macht genommen werden?
  • Föderalismus
    Wird noch dort entschieden, wo umgesetzt wird?
  • Sozialstaat
    Wir alles dafür getan, dass alle Menschen befähigt werden, sich an dem beteiligen können, was alle angeht? (Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit)

Das waren vor 200 Jahren die Versprechungen. Und was ist daraus geworden? Gilt das noch? Kann das noch immer als Ziel angenommen werden? Haben wir die Erfahrungen vor 100 Jahren genügend berücksichtigt? Sind das noch die Antworten, welche die aktuellen Herausforderungen angehen? Was sind denn eigentlich die aktuellen Herausforderungen? Es geht um nichts weniger, als die Soziale Frage auf der Höhe der Zeit zu beantworten.

Dass sich Menschen aus unterschiedlichen Gedankentraditionen ohne Polizeischutz und ohne ein einziges unfreundliches Wort einen ganzen Abend offen über unterschiedliche Bedenken, unterschiedliche Anliegen und unterschiedliche Interessen unterhalten: Es ist einfach bloss grandios.

Die besten Argumente?

Der Sprecher des Bischofs schliesst sich privat den Hinweisen von Andreas Kley an, dass die Freiheit durch den Diskurs der Freiheit bedroht werde. Er sieht vor lauter Interessenvertretungen und Moralkeulen die Argumente nicht mehr.

Die Gerichtsjournalistin schliesst sich einem namentlich nicht genannten, ehemaligen Bundesrichter an, welcher der Schweiz vorauseilender Gehorsam unterstelle. Überredet: Vierzehn Lektionen Mystik wären eine gute Sache.

Die Nationalrätin für die Liberalen stellt nüchtern fest, dass es sich hier um das Verhältnis vom Staat zu anderen Staaten geht. Das bringt die Sache auf den Punkt.

Der polternde Nationalrat für die polternde Vertreter “des” Schweizer Volkes expliziert, warum die Menschenrechte der EMRK — und zwar jeder einzelne Artikel in vollem Umfange — von niemanden in seiner Partei angezweifelt würden. Er spricht aus, dass er weiss, warum diese Bemühungen gemacht worden sind. Und er steht hinter diesem Bekenntnis. Er spricht es aus, bis hinunter zu den Verbrechen der Nationalsozialisten. Er sagt nie Holocaust. Aber er spricht es aus. (Ein Segen. Im Vergleich zu dem, was sich im deutschsprachigen Raum sonst so Politiker zu sagen getrauen.)

Wenn ich ohne vorherige Rückfrage bei meinen Juristen nicht mehr handeln kann. Wenn jener mehr Handlungsspielraum hat, welcher die besseren Juristen bezahlen kann. Wenn mein Leben so kompliziert wird, dann leidet das Vertrauen in den Apparat des Staates. Und ich weiche aus. Ins Internet. Und tschüss.

Es ist aber komplizierter: Ein Unternehmen, was zu 51% der Schweizerischen Eidgenossenschaft gehört — also den Bürgerinnen und Bürgern — hat durch die Zunahme der computervermittelten Kommunikation nicht nur massiv an Einfluss gewonnen, als dass sie weite Teile meines Lebens unter amerikanisches Recht verschifft. Ich surfe nach amerikanischem Recht. Ich speichere Daten nach amerikanischem Recht. Ich kommuniziere mit Menschen und Maschinen nach amerikanischem Recht. Die Juristen verwerfen ob meiner Fragen die Hände. Da ist weder ein fremder noch ein bekannter Richter, welcher sich für mich einsetzt. Ich bin allein. Ich gondle auf offenem Meer: Und alle paar Tage klicke ich demütig ab, dass ich einverstanden bin, dass ich selber schuld bin.

mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa

“Mein Staat, warum hast du mich verlassen?”

Und was tun die Parteipolitiker? Sie fahren Kampagnen. Irgendwelche. Kampagnen welche politische Gegner überrumpeln, die eigenen Mitglieder begeistern, beschäftigen und unter_halten.

Und was tut dieser staatlich zwangsfinanzierte Synchronisationsjournalismus? Er hat Spass bei allem was reinhaut, emotionalisiert, eskaliert. (Nur wenige geben es offen zu. Aber das ist auch nicht nötig: Es ist offensichtlich. Fotografierbar. Abfilmbar. Printscreenbar.)

Die Herausforderungen sind andere.

Nein. Andere.
Nein. Ganz andere.
Nein. Gänzlich andere.

Ob wir die Worte dafür schon haben?

  • Wir erleben eine kommunikative Krise.
  • Wir erleben eine ökonomische Krise.
  • Wir erleben eine ökologische Krise.

Wir nennen es #medienlǝsɥɔǝʍ

(und ich mache jetzt was anderes. Nein: Fussball.)

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Stefan M. Seydel/sms ;-)

(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Autor, Künstler.

Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Bis 2010 Macher von rebell.tv. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Sommer 2014 lebt und arbeitet er in Zürich: #dfdu.org AG, Konstellatorische Kommunikation. (Entwicklung von Pilot und Impulsprojekten, gegründet 1997 mit Tina Piazzi)

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