Sie nennen es #Digitalisierung — Und was sagt #Sozialarbeit dazu?
[Textsorte: Traum, Blitz, Bekenntnis] Gedanken im Nachgang zum Workshop am 8. Mai 2018 der Hochschulen Weingarten (.de), Vorarlberg (.at) und St. Gallen (.ch), sowie im Abgleich des Diskussionsstandes am 25./26. Mai 2018 #sozialdigital mit FH St. Pölten (.at) und Hochschule Luzern (.ch)
Arbeitsstand 28.05.2018/17:07h/sms ;-)
Global Definition of Social Work
“Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledges, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing.”
“Die Profession Soziale Arbeit fördert den sozialen Wandel, Problemlösungen in menschlichen Beziehungen sowie die Ermächtigung und Befreiung von Menschen, um ihr Wohlbefinden zu heben. Unter Nutzung von Theorien menschlichen Verhaltens und sozialer Systeme vermittelt Soziale Arbeit am Punkt, wo Menschen und ihre sozialen Umfelder aufeinander einwirken. Dabei sind die Prinzipien der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit für die Soziale Arbeit fundamental.”
Soziale Arbeit ist Arbeit am Sozialen
- und nicht an Körpern
- und nicht an Psychen
Die Bezeichnung von Beruf, Profession und Disziplin Sozialer Arbeit zeigt diese Grundannahme an. Nicht erst seit 1989, seit dem die Mauer von Links und Rechts gefallen ist oder in Genf das entwickelt wurde, was bis heute Weh!Weh!Weh! genannt wird.
Die vier Industriellen Revolutionen (Technisierung, Maschinisierung, Automatisierung, Computerisierung) haben eine Umstellung erzwungen, welche für die theoriemachenden Frauen Sozialer Arbeit seit 200 Jahren eine Selbstverständlichkeit sein musste:
Ein “Management Sozialer Probleme” verlangt von Komplexität auszugehen, nicht von Kompliziertheit.
Hiltrud von Spiegel macht dazu Hinweise unter dem Titel Technologiedefizit. An dieser Umstellung wird seit 100 Jahren gearbeitet. Die Stichworte sind bekannt. “Unschärfe Relation”, “Relativitätstheorie”, “Wendezeit”, “Paradigmenwechsel”, “Im Zeichen des Schmetterlings” etc. Die Soziale Frage auf der Höhe der Zeit zu denken, hat etwas atemberaubendes.
Soziale Arbeit interessiert sich für Sozialen Wandel? Dann könnte sie seit 20 Jahren an erster Stelle stehen. Für die Suche nach Erklärungen für den aktuellen Wandel bietet Dirk Baecker mit #medienlǝsɥɔǝʍ einen überraschenden — überraschend produktiven, überraschend einfachen, überraschend informativen— Zugang an. Langsam:
Die Tradition der theoriemachenden Frauen Sozialer Arbeit
Peter Drucker zitiert Mary Parker Follet ganz selbstverständlich. Silvia Staub-Bernasconi zeigt eine lange Liste von Frauen, welche ein vernetzte, systemische, prozessuale — im umfassensten Sinne “ökologische” — Vorstellungen entwickelt haben. (Und wenn Sadie Plant die Geschichte des Computers erzählt — den webenden Frauen am Web — dann wurde jene Liste zwar nahtlos verlängert, blieb aber dennoch seit 20 Jahre völlig unrezipiert.)
Kurzum: Soziale Arbeit schöpft aus einem riesigen Fundus von Erfahrungen, Praktiken, Theorien, welche in der Konfrontation mit den aktuellen Herausforderungen bestens vorbereitet wäre. Aber…
Umso mehr überrascht es, dass die Tradition Sozialer Arbeit nicht offensiv zur Darstellung gebracht wird. Mehr noch: in (Fach-)Gesprächen von Sozialarbeit — selbst innerhalb abgeschlossener Zirkeln von Hochschulen und Forschungseinrichtungen — kann irritationslos von “Digitalisierung”, “Sozialen Netzwerken” (Facebook und so), “sozialen Medien”, “digitaler Gesellschaft” gesprochen werden. Die Art und Weise wie das Feuilleton der Tageszeitung “Digitalisierung” verhandelt, dominiert. Dagegen kommt keine noch so profunde Fachliteratur an.
Was auch für Soziale Arbeit neu ist?
Maschinen lesen und bearbeiten Texte, Bilder, Töne und kommunizieren mit. Konzepte von Kreativität, Lernen, Spontaneität etc. müssen plötzlich mit Maschinen geteilt und auch ihnen zugestanden werden. Nicht nur die Grenzen von Mensch und Maschine werden unschärfer, selbst Intelligenz ist nicht mehr problemlos als eine auf Menschen beschränkte Fähigkeit zu zeigen. Eine nächste Kränkung der Menschheit zeichnet sich ab.
Auf Grund der Kommunikationstheorie — in der Tradition von Paul Watzlawick — wird aber für die transdiziplinäre Beobachtungsperspektive Sozialer Arbeit dieser Umstand zunächst in keiner Weise ein Problem:
Kommunikation hat Soziale Arbeit in keiner Phase ihrer Professionalisierung als eine “Röhrenkommunikation” — als ein Copy/Paste von Gedanken von einem Kopf in den Kopf eines anderen Menschen — begriffen:
Menschen kommunzieren nicht, damit sie sich verstehen können.
Menschen kommunzieren, weil sie sich nicht verstehen können.
Im Dreieck von Denken — Fühlen — Handeln, fokussiert Soziale Arbeit traditionellst auf Handeln. Soziale Arbeit beobachtet das Beobachtbare: Auf (vorläufige) Endergebnisse von Austauschprozessen. Soziale Arbeit hat bestimmte Vorstellungen entwickelt von Fairness, einer komplementär gedachten “Gerechtigkeit & Fürsorglichkeit”. Staub-Bernasconi hat mit ihrer Machttheorie (Austausch, Kriterien, Macht) ein differenziertes, handhabbares, leicht zu vermittelndes Instrumentarium zur Verfügung gestellt.
Sozialarbeit denkt von unten nach oben
Typische für Laienhelfende ist, dass diese “vom Menschen her” denken, “den Menschen ins Zentrum” stellen. Die hippen Hashtags #humanise, #awareness etc. passen gut in diese Richtung.
C. Wolfgang Müller zeigt aber in: “Wie Helfen zum Beruf wurde”, dass Soziale Arbeit vom Sozialen her denkt. Theresa Wobbe zeigt “Weltgesellschaft” als eine gemeinsame Denkfigur für Soziologische Systemtheorien. Reto Eugster hat am Höhepunkt des Neoliberalismus mit seiner “Die Genese des Klienten” nachgezeichnet, wie gemacht, wie gewollt, wie innig das Verhältnis von Sozialarbeit und ihrem Klientel ist. Und damit präzis der eigenen Professionsdefinition (siehe oben) zuwider läuft. Leider konnte das kritische, anklagende, beunruhigende Potenzial dieser Arbeit nicht integriert werden.
Will sagen: Die Tradition Sozialer Arbeit denkt — Gilles Deleuze erklärte es einmal am Beispiel der postalischen Adresse — von “der Welt her” und nicht “vom Individuum aus”. Noch in den 90er Jahren hat eine Adresse auf einem Brief so ausgesehen:
(Frau)
Maria Muster
Beispielstrasse 3
Zureich
Schweiz
Europa
(Welt)
In der aufklärerischen, sozial-liberalen Tradition denkt Soziale Arbeit klassisch “links”. Nach Deleuze: “Von unten nach oben”. Und eben — nicht wie für “rechtes denken typisch” vom Ego, vom Individuum, von den “Gefühlen und Empfindungen”, den persönlichen “Wünschen” von Menschen her.
(*) ein nachtrag vom 6. juni : vergl. ganz unten
Selbstverständlichst respektiert und verteidigt Sozialarbeit die “Bedürfnisse” von Menschen. Aber in der Tradition von Neuzeit, reFORMartion, proTESTantismus, Aufklärung, Moderne wird “das Minoritär werden” (Deleuze) als eine produktive, emanzipatorische Kraft gesehen.
Soziale Arbeit kritisiert diese Entwicklung, wenn diese Tradition in eine Übertreibung und damit in eine Zerfallsform gerät: Zygmunt Baumann müsste zitiert werden. Aktueller: Wenn Bürgerinnen und Bürger als ICH AG umbenannt werden und der einzelne Körper der (Selbst-)Ausbeutung durch ökonomische Logiken — Stichworte: Konsumismus, Dienstleistungsgesellschaft, Multioptionsgesellschaft etc. — ausgesetzt und freigegeben wird. Die Mitarbeit an einem solchen Programm von individuellem “Fördern & Fordern” kann keine Soziale Arbeit sein, weil Soziale Arbeit — eben! — auf “Austauschprozesse” fokussiert und nicht auf einzelne Körper von Menschen.
Was ist “das Soziale”? — Wir nennen es Kommunikation.
Dies Vorstellungswelt korrespondiert mit der Konzeption des Begriffs Kommunikation nach Niklas Luhmann:
Nicht Menschen kommunzieren. Kommunikation kommuniziert: “Es gibt keine Information ausserhalb der Kommunikation, es gibt keine Mitteilung ausserhalb der Kommunikation, es gibt kein Verstehen ausserhalb der Kommunikation.”
Spätestens mit der Dominanz computervermittelter Kommunikation wirkt diese Bemerkung auch gar nicht mehr so befremdlich, so abstrakt, so “theoretisch” wie dies noch in den 1990er Jahren wirkte.
Drei sprachliche Fallbeispiele?
- Wenn der Sozialarbeiter den Ausdruck “Fakenews“ liest, muss er dann an Weltuntergang denken? — Nein. Weil weder Lüge noch Wahrheit zu seinen Konzepten gehört. Er hört gänzlich anderes…
- Wenn der Sozialarbeiter in der Zeitung von “sozialen Medien” liest, bezieht er dann diese Information vertrauensvoll aus “asozialen Medien”? Aus “klassischen Medien”? Aus “normalen Medien”? Aus “der freien Presse”, welche auf “Filterblasen” in “unfreien Medien” verweisen.
- Wenn der Sozialarbeiter hört, dass den Kindern “Medienkompetenz” vermittelt werden kann, dann geht er davon aus, dass diese Experten einfach noch nicht erfasst haben, welche Kompetenzen Kinder auszeichnet...
Empowerment
Die Selbstermächtigung — und damit die individuelle Emanzipation — auch und gerade von der Hilfe der professionell Helfenden, bleibt das erste Ziel von Sozialer Arbeit. Das ist Paradox. Und läuft stur den aktuell dominanten ökonomischen Modellen zuwider. Und jetzt?
WORK IN PROGRESS
(ahja. logo: freue mich über kommentare, tweets, eMails zum thema ;-)
(*) ein nachtrag vom 6. juni
Nach einem (der vielen) Gespräche mit philipp meier | Ein umgangssprachlicher Ausdruck ist: “nach unten/oben treten” als Zeichen für rechtes und linkes agitieren.
Mit dem Beispiel von Gilles Deleuze könnte leicht gezeigt werden, dass es eben gerade nicht reicht zu sagen: “Wir setzen uns für Flüchtlinge ein, darum ist es legitim den Platzspitz zu besetzen.” Genau gleich könnten andere sagen: “Wir setzen uns für den Erhalt der kulturellen Vielfalt der Urschweiz ein.” Und dann bist du Mitten im Kampf um die schöner verzierte Keule, welche dir den Schädel einhaut.
Linkes Denken — nach Gilles Deleuze — würde also eher fragen: Wie kommt es, dass so viele Menschen auf der Flucht sind. Es würde nach Geschichte und Gründen von Völkerwanderungen fragen. Es würde über Kriegsindustrie und Kriegsinteressen gefragt werden. Nach Auswirkungen der Dominanz kapitalistischer Systeme, welche gerne auch schon mal Demokratie genannt werden, unter #DearDemocracy vermarktet werden und in arabischen Ländern #Damakrata genannt sein sollen. Behauptet jedenfalls Peter Sloterdijk. Vermutlich käme es zu wilden Diskursen. Immerhin haben die Freunde des Kapitalismus einige Argumente auf ihrer Seite. Und es müsste freilich auch über “Globale Erwärmung” gesprochen werden. Dabei wäre es völlig gleichgültig, wer “schuld” daran ist. Es würde genügen, sich darüber zu einigen, ob wir es tatsächlich mit einer solchen zu tun haben. (Das wäre vermutlich einfach.) Und dann ginge es los: Wohin mit all den Menschen die kommen werden?
Differenzierter könnte mit Silvia Staub-Bernasconi beobachtet werden. Auffallend — und ich würde sagen: im Sinne von Gilles Deleuze — auch hier: Silvia ordnet es nicht einem Links/Rechts-Schema zu. In der Beobachtung von Austauschprozessen würde — wie es schon der Heiland vorgeschlagen haben soll — auf die Früchte geschaut werden… Und das ist bekanntlich auch ein schwieriges Unterfangen: Nicht alles was im ersten Moment positiv aussieht, wirkt sich auch entsprechend aus…
und damit wäre ich dann bei den Benediktinern und ihrem “Best of” des Zusammenlebens: Die Regula Benedicti. Ein systemisches, prozessuales, zirkuläres tun. Die Suche nach einem musterhaften umgang unter der Berücksichtigung des Faktes, dass Dissent.is(t ;-)
Stefan M. Seydel/sms ;-)
(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Autor, Künstler.
Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Bis 2010 Macher von rebell.tv. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Sommer 2014 lebt und arbeitet er in Zürich: #dfdu.org AG, Konstellatorische Kommunikation. (Entwicklung von Pilot und Impulsprojekten, gegründet 1997 mit Tina Piazzi)