=== Stalins Badezimmer ===

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Liebe Internetgemeinde! Ich entschuldige mich. Ich habe das Heiligtum der Weisheit beschmutzt, das Wissen der Vielen, die Schwarmintelligenz in die falsche Richtung gelenkt. Ich habe Wikipedia gefälscht.
(Andreas KopietzBerliner Zeitung | Archiv 2012)

Aus der Serie: Hass aufs Internetz — aber professionell

[Textsorte: Blitz, Traum, Bekenntnis | das ist ein live-blogging — für den aktuellen arbeitsstand: re:load]

Andreas Kopietz nennt es “Selbstversuch”

“Ich schrieb den Satz: “Wegen der charakteristischen Keramikfliesen wurde die Straße zu DDR-Zeiten im Volksmund auch ,Stalins Badezimmer’ genannt.” Als ich darüber nachdachte, dass diesen Unsinn niemand für wahr halten würde, hatte ich um 21.13 Uhr mein Weinglas schon versehentlich auf die Enter-Taste gestellt. Nun kann bei Wikipedia nicht jeder alles verbreiten, was der Grund dafür ist, dass auch ich mitunter Wikipedia zum Nachschlagen genutzt habe. Eine Schar ehrenamtlicher Mitarbeiter prüft die Einträge der Nutzer vor Veröffentlichung auf Plausibilität.” (…) “Weil ich ein schlechtes Gewissen bekam, löschte ich am 17. März um 17.51 Uhr Stalins Badezimmer wieder aus Wikipedia. Um 20.13 Uhr machte ein ehrenamtlicher Wikipedianer, der nach eigener Darstellung auf Berliner Stadtteile und Stadtgeschichte spezialisiert ist, meine Änderung rückgängig. Und seitdem ist es die Wahrheit, dass die Karl-Marx-Allee zu DDR-Zeiten im Volksmund Stalins Badezimmer genannt wurde.”

HASS AUFS INTERNETZ — aber professionell.

Sollte ich den Text durchgehen? Wort für Wort? Satz für Satz? Zeigen, was offensichtlich ist? Lust habe ich darauf eigentlich gerade gar nicht. Abernu: Wie wirbt Diogenes? — Stöhnen wie Diogenes ;-)

Die dazugehörige Diskussionsseite bei Wikipedia. Andreas Kopietz hat ein Bekennerschreiben für die anonyme Löschung durch 195.74.70.31 abgegeben. Einige Bemerkungen zu einigen Textpassagen von Andreas Kopietz:

Liebe Internetgemeinde!

Wer soll das sein? Andreas Kopietz auf der Kanzel aus der Zeitung, unten das Fussvolk auf den harten Holzbänken?

Ich entschuldige mich.

Ein Heuchler. Durch jede Spalte trieft der Spott. Und so geht es auch weiter:

Ich habe das Heiligtum der Weisheit beschmutzt

Das ist eine Beleidigung. Eine Herabwürdigung. Ich kennen keinen Wikipedianer, welcher von Wikipedia als einem “Heiligtum der Weisheit” reden würde. Auch nicht:

das Wissen der Vielen, die Schwarmintelligenz

So haben andere darüber geredet. Kopietz gibt an, er habe Wikipedia…

in die falsche Richtung gelenkt. Ich habe Wikipedia gefälscht.

Er zeigt damit von den ersten Zeilen her an, dass er Wikipedia nicht verstanden hat: Wikipedia fälschen: Was soll das sein? Wie soll das gehen? Es ist ganz normaler Hass. Aber professionell verkappt. Und wie gehts weiter?

Als ich darüber nachdachte, dass diesen Unsinn niemand für wahr halten würde…

Man muss Berlin nicht sehr gut kennen, um mit der Berliner Schnauze in Kontakt gekommen sein. Die Begriffe des Volksmundes sind sehr oft nichts weniger als Unsinn. Im Sinne von: Sinn durch Widersinn. Aber sein Punkt ist ja noch ein anderer. Im zweiten Teil des Satzes:

hatte ich um 21.13 Uhr mein Weinglas schon versehentlich auf die Enter-Taste gestellt.

Das ist eine besoffene Feststellung. Eine Aussage darüber, was er wohl annimmt, wie bei Wikipedia geschrieben wird? Und der nächste Quatsch folgt sogleich:

Nun kann bei Wikipedia nicht jeder alles verbreiten, was der Grund dafür ist, dass auch ich mitunter Wikipedia zum Nachschlagen genutzt habe.

Wie hat Paul Watzlawick bemerkt: Wer nur einen Hammer als Werkzeug hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Zack! Draufgehauen.

Erstens: Das Distribuieren von Inhalten und Erreichen von Zielpublikümmers und Klicks und Likes und Quoten bolzen… Hei: Das hat mit Wikipedia nun echt gar nichts zu tun. Noch gar nie. Einfach gar nichts. Und wird es auch nie und nimmer.

Also. Nocheinmal: Erstens geht es bei Wikipedia nicht um einen Prozess des Verbreitens. Und zweitens: Doch! Jeder kann. Der Andreas Kopietz hat es ja eben gerade gezeigt. Jeder! Ohne sich anmelden zu müssen. Einfach so. Seit 2001 geht das so.

Am Schluss des Artikels dann dieses — vielleicht gar nicht so — geheuchelte

Weil ich ein schlechtes Gewissen bekam…

Der arme Tropf merkt plötzlich, wer hier getestet wurde. Und er lernt grad, dass die Wirklichkeit möglicherweise eben doch eine soziale Konstruktion ist, an welcher er offensiv mitgewirkt hat.

Bei Wikipedia ist es ihm aufgefallen. Wenn er als Journalist die Zeitung abfüllt, vergisst er es. (So?)

Was testete der Test dieses Journalisten?

Wikipedia entstand 2001. 2007 musste überrascht festgestellt werden, dass diese besoffenen Idioten, diese ollen Verbreiter von gefährlichem Halbwissen, dieses unüberschaubare Heer von #Vollpfosten, diese Leserbriefschreiber, Internettrolle und andere User mittels einer simplen Wiki-Software etwas erschaffen haben, welches vorher… wow… Brockhaus. Britannica. Duden. Wow. Das waren einst “Institutionen”. Und das kann nachgebaut werden? Ohne jede Platzbeschränkung? Mit allen Verzweigungen und Verzettelungen? Mit Kontroversen und Widersprüchlichkeiten? Mit allen Aktualitäten und Neologismen?

Wie gelingt Qualität bei Wikipedia?

(…)

Sei Mutig!

(…)

Die ganz anderen Probleme von Wikipedia

(…)

Warum die Genese des Textes wichtiger ist, als der Text selbst?

(…)

Die Werte von Wikipedia

(…)

es geht nicht um wissen der vielen — sondern um belegbares wissen…

(…)

DIE NAMEN DER MEDIEN

etablierten
seriösen
ernsthaft
klassischen
normale
...
freie presse

(…)

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Stefan M. Seydel/sms ;-)

(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Autor, Künstler.

Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Bis 2010 Macher von rebell.tv. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Sommer 2014 lebt und arbeitet er in Zürich: #dfdu.org AG, Konstellatorische Kommunikation. (Entwicklung von Pilot und Impulsprojekten, gegründet 1997 mit Tina Piazzi)

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