Twitter war kein SMS an viele. Ganz im Gegenteil.
- 02.02.2017: Den nachfolgenden Text als @TwitterMoments umgesetzt
- ??.??.2015: Podcast mit Moritz Klenk über die Praxis des Twitterns
[Textsorte: Memo]
PROLOG | Auch ohne diese kursiv gesetzten Hinweise, würden sie den Text verstehen. Vielleicht sogar noch besser. Abernu:
- In die “Form der Unruhe”, Band 2, 2010, Junius-Verlag Hamburg, behaupteten wir, dass mit Twitter am weitesten in die Zukunft “menschlicher Kommunikation” gesehen werden kann. — Das behaupten wir noch immer.
- In “Anderes anders machen” zeigten wir, wie sich der Workflow im Umgang mit “Daten, Informationen und Wissen” durch (sog.) “Digitalisierung” umstellt. — Es bleibt spannend.
- Die Fachhochschule Burgenland hat Tina Piazzi und Stefan M. Seydel Ende November 2016 eingeladen, zum Verhältnis von Paul Watzlawick und Sozialarbeit zu sprechen. Im anschliessenden Workshop stellten wir einen Twitter-Tweet auf. Als Strukturaufstellung. Zu einigem Erstaunen der Nicht-Twitternden. — Darum nachfolgend diese Zusammenstellung.
#Nein. Uns interessiert Twitter nicht. Uns interessiert, wie sich “menschliche Kommunikation” unter den Bedingungen von mitrechnenden Rechnern verändert. Wir nennen es #medienlǝsɥɔǝʍ:
Mit der #Sprache konnten plötzlich abstrakte Sachverhalte verhandelt werden.
Mit der #Schrift konnten nicht nur Schriftsteller die flüchtige Sprache mittels Schrift auf fest stellen.
Wenig später kam es zu einem riesigen Littering. Die Literaten pressten jetzt ihre aufklärerischen Texte auf die Strasse: Der #Buchdruck ermöglichte das anonyme Publizieren. Die damit verbundene Umstellung der Distribution von Information hat uns fernste Visionen in die nächste Nähe gerückt. Zum Beispiel via Fernsehen. TV. Tele Vision. Fernsehen meint, das Ferne ganz Nah sehen. Fernsehen ist Nahsehen. Aber ohne Möglichkeit, darauf direkt zu reagieren. (Klar. Das hat uns Bazon Brock erklärt.)
Kurzum: Unter “Buchdruck” verstehen wir hier also insb. #Massenmedien. Das ist eine Vermittlungen von Informationen, welche es verunmöglicht ein unvermitteltes Feedback zu geben. Mit dem riesigen Vorteil, dass dadurch “Öffentlichkeit” entsteht. Und “Privatheit” geschützt wird.
Jeder #medienlǝsɥɔǝʍ hat zwar das Vorgängermedium nicht ersetzt, aber die Möglichkeit “menschlicher Kommunikation” — das Soziale — gänzlich neu definiert, in eine andere #Form gebracht, neu formatiert. Das erwarten wir auch mit dem, was wir als 4. medienlǝsɥɔǝʍ #Computer zählen wollen. #dfdu AG geht es um die Entwicklung einer “konstellatorischen Kommunikation”. — Schluss jetzt. Es geht los: Hier noch die Mindmap zum nachfolgenden Text.
Twitter war kein SMS an viele. Ganz im Gegenteil.
EINLEITUNG | Tun wir so, als kennten wir Twitter nicht. Tun wir so, als kennten wir aber noch SMS: “Short Message Service”. Von einem Telefon kann auf ein anderes Telefon eine kurze Nachricht geschickt werden: “Wo bist du?”, “Ich liebe dich!”, “Bring Brot mit!” Und so. — Schnell weiter:
Tun wir nun so, als hätte uns die Tochter ein SmartPhone auf Weihnachten geschenkt und die Enkelin hätte uns WhatsApp eingerichtet. Das wäre dann sowas wie ein smarteres SMS: Jetzt können Bilder oder gar kleine Videos geschickt werden. Ein Enkel schickt immer nur Tonaufnahmen von sich. Er redet in sein Handy. Es ist einfach, ihm auf die gleiche Weise zu Antworten. Eine Enkelin schickt vor allem Bilder. Davon viele Selfies. Und noch tollerer: Es gibt jetzt einen “FamilyChat”, wie die Enkelin es nennt. Eine kleine Nachricht hier, eine kurze Message an die ganze Familie. Das ist ganz wunderbar. Alles klar? — Genau. Und genau das wird jetzt zum Problem.
Twitter ist kein SMS an viele. Ganz im Gegenteil.
Es stimmt zwar: Aussehen tut es bei Twitter noch irgendwie ganz ähnlich. Und freilich kann Twitter auch so wie SMS oder WhatsApp genutzt werden: Auch eine Badewanne kann als riesiger Blumentrog oder lustiger Bausatz für eine Seifenkiste genutzt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Spätestens seit 2010 hat Journalismus Twitter als effektivste und effizienteste aller “sozialen Plattformen” entdeckt, in welcher die für die “asozialen Massenmedien” so wichtigen “Breaking News” zuerst (aus dem Feld der huch!Emergenz) auftauchen.
Wer als Werkzeug nur die Distribution hat, sieht in jedem Tweet nur eine Nachricht.
Und weil Massenmedien auch nach 20 Jahren Weh!Weh!Weh! unerklärlich und gänzlich kontrafaktisch enorme Artikulationsmacht ausüben und damit auch legitimierend wirken, selbst für das, was in Wikipedia als wahr und wirklich und richtig den #EditWar überlebt, muss Immanuel Kant als Schirmherr aufgerufen werden: “Selber denken macht einfach auch sehr viel mehr Spass.” (So?)
Twitter ist in erster Linie ein Generator von Listen.
Wenn ich einen Tweet absetze, liegt diese kurze, (möglicherweise) multimediale Notiz zuerst einfach bloss zuoberst auf meiner eigenen “Timeline” meines “Accounts”. (Klären wir zuerst die Zeichenkette “Account”:) Einer meiner vielen Accounts heisst: @sms2sms. Ein Account ist vieles, aber uns hier soll er nichts anderes Meinen als einen “Zettelkasten”. In meinem Zettelkasten listen sich also all meine Zettel chronologisch auf der Zeitachse ein. Mein Zettelkasten ist hier nun aber nicht von “vorne nach hinten”, sondern “von oben nach unten” gelistet. Eben: Entlang der “Timeline”. Der letzte Tweet zuoberst.
Ja, Ja: Twitter bastelt ständig an sich selbst herum. Sie kämpfen ums überleben. Noch einmal: Uns interessiert Twitter nicht. Ok? Wir missbrauchen Twitter bloss, um etwas darüber zu erfahren, wie sich “menschliche Kommunikation” unter den Bedingungen von #Computer verändert. — Mehr dazu ganz oben im kursiv gesetzten Teil.
Mein eben abgesetzter Tweet ist also Teil meines Zettelkastens geworden. Ist aktuell der oberste Zettel in meiner eigenen Timeline. Meiner TL. Aber noch mehr:
Möglicherweise hatte es in meinem Tweet ein @ und daran anschliessend einige Zeichen. Das verweist auf einen anderen Account. Einen anderen Zettelkasten. Twitter hat mit dem Abschicken, mit dem Versenden, mit dem “Ablegen” meines Tweets in meinen Zettelkasten sofort jenem anderen Account gezeigt, dass dieser erwähnt worden ist. Was aber damit dort geschieht ist gänzlich unklar. Vielleicht hat jener Account meinen Account geblocked oder stumm geschaltet. Vielleicht ist also das, was andere mit einer #Message velwechsert haben, beim “Empfänger” gar nie für Wahr genommen worden. Noch mehr: Darum gehts mir, welcher als “Sender” bezeichnet wird, auch gar nicht. Viel dramatischer: Die Vorstellung einer Kommunikation zwischen Menschen als <<Sender>Empfänger< hat unter den Bedingungen von #Computer kaum mehr eine Bedeutung. Ich meine: Gar keine.
Freilich bietet Twitter die Möglichkeit “Nachrichten senden” an. Sie nennen es DM. Direct Message. Eine solche Nachricht könnte auch an viele geschickt werden. Das wäre dann Nahe an WhatsApp. Aber all dies interessiert uns hier nicht. Es geht bei Twitter nicht ums senden. Das verstehen Journalisten nicht. Das hat aber nichts mit Twitter zu tun. Gell? — Schnell weiter:
RT ist anregender. ReTweet. Andere nennen es postfaktisch und irreführend “Weiterleiten”. Tatsächlich — ich meine “faktisch” — macht ein RT nichts anderes, als einen Tweet in die eigenen TL (Timeline) zu übernehmen: Wenn ein RT gemacht wird, ist nicht mehr der eigene, als letzter abgelegte Tweet zu vorderst — zuoberst! — im Zettelkasten. Sondern jener Tweet, in welchem der eigene Account erwähnt worden ist. Das ist alles. Und das ist nicht wenig.
Aber noch aufregender ist das Zeichen # unmittelbar gefolgt von irgend einer Zeichenkette. Wir nennen es Hashtag.
Wenn vor irgendeiner Reihe von Zeichen das Zeichen # gesetzt wird, entsteht unmittelbar, instantan, sofort eine neue Liste. Oder, falls früher schon einmal die genau gleiche Zeichenkette bezeichnet wurde, dann liegt nun unser Tweet zuoberst auf jener für alle offen zugänglichen Liste!
Mit dem Zeichen # erhält ein Tweet ein Label, ein Tag, ein Randloch. Dadurch entsteht kein Durcheinander. Ganz im Gegenteil. Wir lesen das Wort “Hash” im Englischen als ein Verb (to hash). Dem Tweet wurde ein “Hook”, einen Haken hinzugefügt. Die Nadel unseres Zettelkastens kann durch diese Löcher fahren und uns alle jene Tweets — es sollen über 500 Millionen Tweets am Tag abgesetzt werden — anzeigen lassen, welche genau die gleiche Zeichenkette bezeichnet haben. Als Liste. Drauf klicken genügt.
# als Zeichen der ultimativen informationellen Subversion
Wer einen offiziellen Hashtag für sein Projekt, seinen Kongress, seine Notizsammlung erstellt, verliert die Kontrolle über diese Liste. Zu dieser Liste wird einfach jeder Tweet gefügt mit dem gleichen Hashtag. Immer stur der zeitlichen Hierarchie folgend. Der letzt abgesetzte Tweet zuoberst. Hier kann nicht mehr geblocked werden. (Hier kann nur noch Twitter manipulieren.) Und wir (etwa) können fragen, welche Tweets von meinem Account mit diesem Hashtag abgelegt wurde. Zum Beispiel listet die Anfrage from:sms2sms #PaulWatzlawick auf, welche Tweets aus meinem Account mit dem Hashtag #PaulWatzlawick abgesetzt worden ist. (Aber das muss uns hier nicht weiter interessieren.) Wichtiger ist die dramatische Feststellung: Hyperlinks subvert hierarchy. Und das ist, was uns zum Gewinn wird. Was Massenmedien pulverisiert. Was Öffentlichkeit nicht mehr denken lässt. Was die Unterscheidung Privatheit löscht. Aber so weit sind wir noch nicht.
Wir haben noch das ♥ was wir nicht besprochen haben. Es hat wenig mit dem zu tun, was auf Facebook als “Like” wie Geld gezählt wird. Facebook interessiert uns nicht. Das ♥ lässt sich bei Twitter gut dafür nutzen, einen Tweet zu bezeichnen, an welchem später noch weiter gearbeitet werden will. (Wie andere Twitter nutzen? Moritz Klenk hat dazu einen eigenen Podcast ;-) Wie auch immer. Wo sind wir? — Ahja:
Ein Tweet als Strukturaufstellung? Was?
Es hilft, das 4. Axiom von Paul Watzlawick zu kennen. Es befiehlt, dass “menschliche Kommunkation” in zwei unterschiedlichen, gegensätzlichen, sich gegenseitig perfekt ausschliessenden Art und Weise zu beobachten sei: Digital oder Analog. Das hat Paul Watzlawick vor genau 50 Jahren so notiert. 1967 um genau zu sein. Er nutzte die beiden Worte nicht wie die Journalisten heute. Er meinte mit Digital präzis, genau, exakt. Also: Ja/Nein. Ein/Aus. O/I. Und mit Analog alles andere.
Wenn ein Tweet sagt, dass dort (Link!) etwas ganz tolles zu lesen sei, verstehen wir das. Da brauchen wir keine Strukturaufstellung zu machen. Da genügt es, die 4 Ohren von Schulz von Thun aufzusperren.
Wenn aber ein Tweet — wie Eingangs zu diesem Text, also ganz oben — einem vor Augen erscheint, gibt es zunächst wenig zu verstehen. Wir gucken auf den Tweet und sehen welcher Account, um welche Zeit, vielleicht noch an welchem Ort, etwas abgelegt hat. Wir sehen Zeichenketten. Einige Hashtags. Einige erwähnte Accounts. Einige von Automaten verkürzte — und damit inhaltlich nichts mehr hergebende— Hyperlinks.
Wer mit Systemischer Strukturaufstellung nicht vertraut ist, scrollt weiter. Und ist vermutlich genervt.
Und wir hören Niklas Luhmann rätseln, dass der aktuelle #medienlǝsɥɔǝʍ auf #Computer Kommunikation von Sinn und Inhalt entkoppeln könne. So wie #Buchdruck von Identität und persönlicher Beziehung. So wie #Schrift von Zeit und Ort. So wie #Sprache von Körper.
#Medienkompetenz erkennen wir heute daran, dass nicht auf das gezeigte geschaut wird.
Soll ich hier aufhören?
Ist das bisher nachvollziehbar?
- aktueller Stand: 06.12.2016, 00.40h (finde noch tausend fehler…)
Freue mich über Hinweise.
Via Kommentar. Oder eMail. Oder Twitter. Oder so.
d!a!n!k!e
Stefan M. Seydel
(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin.
Unternehmer, Autor, Künstler.
Ausstellungen u. a. in der Royal Academy of Arts in London, Deutsches Historisches Museum Berlin, Cabaret Voltaire Zürich. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Nominiert mit rocketboom.com für den Webby Award 2006 (Best Use of Video or Moving Image). Jury-Mitglied “Next Idea” Ars Electronica 2010. Bis 2010 Macher von rebell.tv. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Sommer 2014 lebt und arbeitet er in Zürich: http://dfdu.org AG