Was wir nicht von Wikipedia gelernt haben #wikcon18 Teil 2

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Printscreen: Die dunkle Seite der Wikipedia Ein Film von Markus Fiedler und Frank-Michael Speer, Gruppe 42

Textsorte: Traum, Bekenntnis | Das ist die Vorbereitung auf meinen Beitrag am Treffen der deutschsprachigen Community von Wikipedia vom 5.-7. Oktober 2018 in St. Gallen/Schweiz @Wiki_Con #wikicon18

Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit — Was wir von Wikipedia lernen könn(t)en”: Samstag, 6.10.2018, 11.00–11.45 Uhr

(1) Meta (Einführung zu dieser Serie)
(2) Was wir nicht von Wikipedia gerlernt haben
(3) Warum HTML nicht die Fortsetzung des Gleichen mit anderen Mitteln ist?
(4) 22.08.1930 #AlbertEinstein zur 7. @IFA_Berlin: “Sehr verehrte An- und Abwesende
(5) täglich #watchvlog ((( rebell.tv ))) #pngpng bis 17. Oktober 2018
(6) …
(7) …

bildquelle? internetz!

Was wir nicht von Wikipedia gelernt haben?

  1. Wir haben nicht von Wikipedia gelernt, dass wir mit “der Wahrheit” ein dramatisches Problem haben.
  2. Wir haben nicht von Wikipedia gelernt, dass anonymes Publizieren eine grandiose Idee ist, aus Geheimnissen ausbrechen zu können.
  3. Wir haben nicht von Wikipedia gelernt, dass die Autorität einer Aussage nicht darin Legitimation erhält, dass Zugehörigkeit zum Hof, zum Klerus, zu ständischen Repräsentationsorganen reklamiert werden kann. Und auch nicht dadurch, dass sich eine Aussage auf Papst, Kirche, Partei oder Markterfolg beruft.

Wer ist wir?

- Alle anderen nicht.

Wie Wikipedia sich ab 2001 bis 2005, 2006, 2007 rasant aufgebaut hat, wurde insbesondere das ausprobiert, was HTML von Tim Berners-Lee so eindrücklich vorführte:

  1. Zwischen den Texten von Menschen gibt es nicht nur zahlreiche Verbindungen, sie können auch verbunden werden: Jeder wissenschaftliche Text führt einen dicken Anhang mit sich, welchen wir Quellen, Literaturlisten, Fussnoten oder wie auch immer nennen. Der Clou ist, dass plötzlich diese “genau adressierten Verweise” so zugänglich sind, dass sie “ansprechbar” sind. Bis heute lässt sich witzigerweise bloss ein Link auf ein Zeichen setzen. Das wird sich noch ändern: Was eine Adresse hat, wird (aggressiv, progressiv, offensiv) adressiert. Und: Was keine Adresse hat, existiert wie nicht. (so?)
  2. Die Entwicklungen von Menschen sind ohne die Entwicklung von Menschen nicht denkbar. Während Menschen miteinander reden oder telefonieren, sind die schriftlichen Notationen auf ein Blatt Papier stumm und solitär. Was einst eine Revolution war — die Entwicklung von Schrift, die Entwicklung von Buchdruck und damit “Massenmedien” — wird als Behinderung erlebt. Jetzt können Rechner einander anrufen und sich gegenseitig zur Verfügung stellen. Wie Menschen. (Kein Wunder: Die Rechner sind ja von Menschen erfunden worden, gell?) Und Menschen sind empfänglich für die Anrufe von Computern. (Das überrascht auch nicht wirklich. Aus dem gleichen Grund.)
  3. Der Prozess von Denken, Schreiben, sich Feedbacks einholen, Ideen der Kritik zuführen: Mit HTML ist ein “kollaboratives Lesen/Schreiben” möglich geworden. Wir erlebten das damals als sensationell, atemberaubend, absolut befreiend und inspirierend. Das war etwas voreilig. Ja. Klar. Aber es scheint erklärbar zu sein. Weil es so deutlich auf einer Entwicklungslinien zu liegen scheint:

MIT ALLEM RECHNEN

(Aber das würde jetzt zu weit führen und Maren Lehmann hat diese Geschichte eh längst ausformuliert.) Das Konzept von “Medienwechsel”, wie es Dirk Baecker von Niklas Luhmann her weiter führt, bietet eine Serie von Unterscheidungen an, welche ganz praktische Unterschiede generiert: Es hilft, die Genese des Konzeptes von “die Wahrheit” zu erklären, oder bietet eine Erklärung der Zeichenkette “Massenmedien” an. Das scheint mir hier hilfreich zu sein, die Ausführungen zu Punkt 1 abzuschliessen:

Weil “die Wahrheit” nicht mehr in Latein in der christlichen Bibel abgelegt ist und nur von Insidern in der konkreten Anwendung interpretiert werden kann, machen WIR das heute anders. Aber wie?

Die beweglichen Lettern der Druckmaschine erlaubte die Ablösung der verräterischen Handschrift und erlaubte ein anonymes Publizieren.

Wenn ein Text gesetzt und auf einen toten Baum gepresst ist, gleicht dies einer Setzung: Die Gedanken aus dem Kopf, Herz oder Hand eines Menschen, sind durch das Klappern auf einer Tastatur in die Form eines Objektes katapultiert worden und können von anderen Menschen ganz objektiv betrachtet, beoabachtet, beurteilt werden.

Das ist nicht die Wahrheit, dieses Objekt auf Papier.

Ganz im Gegenteil.

Die Wahrheit — und das haben wir nicht von Wikipedia gelernt — erkennen wir nicht erst seit der Erfindung von Buchdruck im Prozess. Das Massenmedium hat dieses “Aussetzen einer Setzung” mit der Aufforderung zur Kritik für die Massen erzwungen: “Wir haben die Wahrheit gesucht. Wir haben sie nicht gefunden. Morgen suchen wir weiter.

Massenmedium
Das Mittel, den einzelnen Körper aus der Masse heraus zu lösen.

Der Zwang, dass jedes Kind zur Schule gehen muss, ist damit offensichtlich verbunden: Jeder — JEDER — jeder Mensch — selbst wenn dieser Mensch eine Frau sein sollte — soll befähigt sein, sich an dem zu Beteiligen, was alle angeht. Es geht also um Herstellung von

  • Öffentlichkeit
  • Demokratie
  • Kinderschutz
  • Gleichberechtigung
  • Beendigung der Sklaverei
  • etc

Wie weit diese Anliegen realisiert wurde… ufff… Aus der Sehnsucht nach Individualität, ist die ICH AG geworden: Wer nicht mehr verschuldungsfähig ist, soll sich gefälligst liquidieren, sich verflüssigen, sich fröhlich lächelnd in der Dienstleistungsgesellschaft auflösen... also… ähm… ufff… Agenda2010, gell? Parallel zum Entstehen der Wikipedia, hat eine sogenannt linke Regierung dieses Ideen Salonfähig gemacht… ufff… wo war ich? ahja:

Was wir NICHT von Wikipedia gelernt haben? Aber ich bin doch fast schon bei Punkt

2 Das anonyme Publizieren hat vor 500 Jahren ermöglicht, dass egal aus welcher Position, egal aus welchem Geschlecht, egal ob erfolgreich oder nicht, es möglich geworden ist, Gedanken zu formulieren. (Diese Sequenz im Film: “Die dunkle Seite der Wikipedia” ist damit der absolute Tiefpunkt und diskreditiert fast den ganzen Inhalt :-( Das anonyme Publizieren war DAS Highlight der Frühaufklärung und DAS revolutionäre Ding vor 200 Jahren.

Nein: Das haben wir NICHT von Wikipedia gelernt.

Wer aber dieses Ideal verrät, nicht erklärt, nicht würdigt, ist umstandlos ein Verräter an der offenen Gesellschaft? Das Jagen von anonymen Publizisten, erinnert damit eher an die Hexenprozesse der Inquisition, als an die Lust am Streit, am Gegenargument, am Widerspruch der Aufklärung.

Dass das anonyme Publizieren Problem mit sich bringt, das hat den Job von Journalismus ja erst nötig gemacht und hervorgebracht: Das Verifizieren von Informationen, ist Teil der Aufgabe in den Büros vor den Schriftsetzern und Buchdruckern und Zeitungsausläufern. Seit Hunderten von Jahren.

Die Probleme sind — das zeigt der Film deutlich — nicht kleiner geworden. Aber anders. Und es gibt noch sehr viel mehr und zusätzlich gänzlich andere Herausforderungen, als dort skandalisiert werden…

3 Wie eine Aussage Autorität erhält? Der Königsweg seit 2500 Jahren, seit 500 Jahren — spätestens aber seit 200 Jahren(!) — ist das Argument.

Dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen.

Eines der ärgerlichesten und abwertensten “Argumente” ist es, “Verschwörungstheorie” zu rufen. (Witzigerweise sehen das die Filmautoren genau gleich, wenden es aber direkt auf Wikipedia selbst an. Dieses Phänomen habe ich als “Den Sack hauen, den Esel meinen” interpretiert. Im Film selbst, ist der Esel “Die Wochenzeitung”. In Geschichte 8 und 9 umstandlos die NZZ. Das scheint mir alles etwas zu präzis zu sein für einen Zufall. Will sagen: Eine Verschwörungstheorie bauen ist super einfach. Und vielleicht ja auch bloss clever ;-) Eie Verschwörungstheorie zu entwickeln ist ein sozialer Trick, einen Aussagenurheber in den Dreck zu stossen, um dann so zu tun, als würde ganz aufmerksam zugehört und geprüft, was sich da aus dem Schmutz heraus alles so anbietet...

Wikidata

Neu allerdings ist, dass heute — und das wohl erstmals in der Geschichte wie WIR uns UNSERE Geschichte erzählen, auch Maschinen, Computer, Rechner mit kommunzieren, mit reden, mit argumentieren.

Daran arbeiten tausende von Wikipedianernde via Wikidata:

“Wikidata is a free and open knowledge base that can be read and edited by both humans and machines.”

Menschen UND Maschinen haben lese und schreiberechte. Dafür setzt sich die Community der Wikipedia ein.

Dagegen wirkt die effekthascherische, personalisiert, skandalisierte “Kritik” der “Geschichten aus Wikihausen” wie eine Fortsetzung des Gedönse von Journalisten, welche ihren Hass auf das Internetz seit über 20 Jahren pflegen: Wir nannten dies 2010 in “Die Form der Unruhe” Band 2, Junius Verlag Hamburtg:

#AIBS — Acquired Internet Bashing Syndrom.

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Stefan M. Seydel/sms ;-)

(*1965), M.A., Studium der Sozialen Arbeit in St. Gallen und Berlin. Unternehmer, Autor, Künstler.

Ausstellungen und Performances in der Royal Academy of Arts in London (Frieze/Swiss Cultural Fund UK), im Deutsches Historisches Museum Berlin (Kuration Bazon Brock), in der Crypta Cabaret Voltaire Zürich (Kuration Philipp Meier) uam. Gewinner Migros Jubilée Award, Kategorie Wissensvermittlung. Diverse Ehrungen mit rocketboom.com durch Webby Award (2006–2009). Jury-Mitglied “Next Idea” Prix Ars Electronica 2010. Bis 2010 Macher von rebell.tv. Co-Autor von “Die Form der Unruhe“, Umgang mit Information auf der Höhe der Zeit, Band 1 und 2, Junius Verlag Hamburg. Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein. Er war drei Jahre Mitglied der Schulleitung Gymnasium Kloster Disentis. Seit Sommer 2014 lebt und arbeitet er in Zürich: #dfdu.org AG, Konstellatorische Kommunikation. (Entwicklung von Pilot und Impulsprojekten, gegründet 1997 mit Tina Piazzi)

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Written by @sms2sms | stefan m. seydel/sms ;-)

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